Disentis/Mustér und seine Geschichte

Disentis – ein Klosterdorf. Ein ganz spezielles Kloster, das immer Überraschungen bereit hat. So wird wohl unsere Geschichte seit den letzten Ausgrabungen korrigiert werden müssen. Lassen wir die Archeologen arbeiten und beruhen wir uns auf das derzeit Bekannte.

Der Name Disentis leitet sich aus dem Lateinischen „dissentire“, was so viel wie Verzweigung, Wegfurche bedeutet. Gemeint sind wohl die beiden Passstrassen Oberalp und Lukmanier. Eine andere Deutung sagt, dass der Name von „desertina“ herstamme, was auf eine einsame und siedlungsarme Gegend hinweist. Tatsächlich liess sich die bronzezeitliche Urbevölkerung der Surselva nur bis zur Siedlung Crepault bei Trun verfolgen, Sumvitg (summus vicus) galt auch in römischer Zeit als das oberste Dorf. Doch 2007 förderten Archeologen Erstaunliches zu Tage: im Vorhof des Klosters entdeckten sie bei Grabungen einen mittelalterlichen Friedhof und tiefer Siedlungsspuren aus der Eisenzeit.  Die Geschichte von Disentis muss neu geschrieben werden, aber zuerst müssen die Ausgrabungen noch ausgewertet werden.

Im 8. Jahrhundert wurde das Kloster in Disentis gegründet. Als Stichdatum gilt 614, was aber nur in etwa stimmen wird. Das Kloster (monasterium) führte zum rätoromanischen Ortsnamen Mustér, die Klosterherrschaft (Casa Dei = Gotteshaus) zur Bezeichnung Cadi für den politischen Kreis Disentis, der allerdings durch die kantonale Umstrukturierung der letzten Jahre immer mehr an Bedeutung verliert.

Das Klosterwappen zeigt ein Diagonalkreuz auf rotem Grund und existiert sicher bereits seit dem 15. Jahrhundert. Für die Landesausstellung in Zürich liess die Gemeinde 1939 das Klosterwappen so abwandeln, dass daraus der jetzige Gemeindewappen, also mit blauem Grund entstand. Die Geschichte des Klosters ist somit auch die Geschichte des Dorfes.

Rätien – ein römischer Sammelname für das Gebiet, in dem von Norden die keltische und von Süden die lepontinische und die melaunische Kultur aufeinander getroffen waren – wurde als „Raetia prima“ ins Imperium Romanum integriert. Chur lag als Kastell an einem wichtigen Strassenzug. Als von Norden die Alemannen einfielen, bewahrte sich Churrätien unter römischem Schutz eine relativ unabhängige Staatsordnung, die Mitte des 6. Jahrhunderts ins Frankenreich mündete. Im 7./8. Jahrhundert hatte das Geschlecht der Victoriden die kirchlich – weltliche Führung inne. Nach dem Tode des Victoriden Bischof Tello 773 kam Rätien unter die Herrschaft Karls des Grossen (768 – 814). Die Christianisierung Rätiens war von Chur ausgegangen, wo erstmals 451 ein Bischof Asinio bezeugt ist. Das Bündner Oberland wurde im Verlaufe des 6./7. Jahrhunderts einbezogen. 

Anfangs des 7. Jahrhunderts liess sich der fränkische Wandermönch Sigisbert in der „Desertina“ nieder. Unterstützung fand Sigisbert beim einheimischen Placidus, der wohl zu den mächtigsten Besitzern gehörte, von denen die zeitgenössische „Lex Romana Curiensis“ berichtete. Da aber der Landesherr, Praeses Victor in Chur, die bisher bewahrte Sonderstellung Churrätiens gefährdet sehen mochte, liess er Placidus umbringen. Die Überlieferung nannte in der Folge Placidus einen Märtyrer und Sigisbert einen Bekenner. Ihr gemeinsamer Gedenktag ist der 11. Juli, der jeweils am vorausgehenden Sonntag von Kloster und Volk feierlich begangen wird.

Um 850, unter Abt Ursicin entstand in Disentis ein eigentliches Kloster nach der Regel des heiligen Benedikt. Im Sinne der benediktinischen Kulturarbeit wurden die Talschaften Tujetsch und Medel urbanisiert. Die frühe Blüte erfuhr durch den Sarazeneneinfall von 940 ein jähes Ende. Die Mönche waren ins Grossmünster nach Zürich geflohen, kehrten jedoch zurück und begannen die Abtei neu aufzubauen.

Als Hüterin des Lukmanierpasses wurde Disentis in die Passpolitik der deutschen Kaiser eingespannt: Otto l. und Friederich I. Barbarossa begingen diesen Weg in den Süden. Das Kloster erhielt Schenkungen bis in die Lombardei. Das Untertanengebiet erstreckte sich im Osten bis Brigels, im Westen bis zum Furkapass. So blieb es bis zum Auskauf der Talschaft Urseren 1649. Darauf begrenzte sich der Klosterstaat auf das engere Gebiet von Tavanasa bis Selva, die heutige Cadi. Als Feudalherren waren die Disentiser Fürstäbte für das politische Geschick des Tales verantwortlich.

Das Kloster übte grossen Einfluss auf die Region aus. Überall zeugen Kirchen und Kapellen von der religiösen Ehrfurcht der Einwohner. 1261 wurde zum ersten Mal die Pfarrkirche S. Gions urkundlich erwähnt, aus dem 12. Jahrhundert stammte auch die St. Agatha (S. Gada) Kirche am Rande der Lukmanierroute. Die Verkehrswege, vor allem der Lukmanierpass spielte für die Region eine wichtige Rolle. So war Lugano Marktort und jedes Jahr trieben die Bauern der Cadi ihr Vieh über den Pass nach Lugano zum Markt. Salz, Wein und Polenta waren die Güter, die sie mit nach Hause nahmen. In den letzten Jahren gewann der Lukmanierpass wieder an Bedeutung, nicht zuletzt durch die Offenhaltung auch im Winter. Touristen aus Oberitalien und dem Tessin kommen nach Disentis zum Skifahren, die Einheimischen nutzen den Pass, um im Winter Mittelmeerklima zu geniessen oder einfach um einzukaufen.

1848 wird Disentis/Mustér mit der ersten Gemeindeverfassung eine eigenständige politische Gemeinde. Der Kanton fördert den Ausbau der Strassenverbindungen. Im Jahr 1858 wird die Russeinerbrücke dem Verkehr übergeben, somit ist die Strecke Sumvitg – Disentis befahrbar, knapp zwanzig Jahre später die Strasse über den Lukmanier kutschentauglich ausgebaut. Disentis wird zum Kurort für Rheumakranke. 1740 bereits wird die St. Plaziquell erwähnt, die stärkste radonhaltige Quelle der Schweiz. Viele kommen nach Disentis, um sich im neuen Disentiserhof (1871) durch das Wasser heilen zu lassen.

1857 wird die Stampa Romontscha gegründet, eine rätoromanische Druckerei, Herausgeberin der Regionalzeitung „Gasetta Romontscha“ und vieler romanischen Bücher (Verlag Desertina). Seit 1965 produziert die Landis&Gyr, heute die Distec AG Formen und Erzeugnisse  für die Industrie (Autoindustrie, Medizintechnik, Luftfahrt, ua.). Die ISM (Informatica e software moderna) produziert seit 1992 Softwarelösungen. Im gleichen Haus arbeitet die Firma ZAI an ihren berühmten Skiern.

1912 eröffnet die Rätische Bahn die Strecke Ilanz – Disentis, seit 1926 fahren auch Züge über den Oberalppass nach Andermatt und Brig. 1971 wird das Skigebiet Caischavedra – Péz Ault mit einer Seilbahn und drei Schleppliften erschlossen. Disentis wird zum Tourismusort. Hotelanlagen enstehen, nicht immer zum Vorteil der Gemeinde, bzw. des Dorfbildes.

Heute zählt Disentis rund 2200 Einwohner. Die Haupt- und Amtssprache ist Romontsch Sursilvan. Somit ist Disentis die grösste romanische Gemeinde überhaupt. In 21 Weilern, wobei das Dorfzentrum „Vitg“, der grösste ist, spielt sich das Leben ab. Die Einwohner arbeiten zu 15% im primären, 63% im tertären Sektor. Noch heute ist Disentis kulturelles Zentrum der Cadi und des Bündner Oberlandes.

Die Weiler haben zum Teil ihre eigene Geschichte. So entstand Mumpé Medel aus einer Walsersiedlung, Mumpé Tujetsch war früher ein Hospiz, wo die Pferde für die lange fahrt über den Oberalppass gewechselt wurden. Wann die einzelnen Weiler entstanden sind, ist heute schwer zu sagen. Wahrscheinlich war dies kurz nach der Klostergründung: um Wegzeiten zu sparen baute man die Häuser dort, wo die Felder waren. Eine Ausnhame bildet Disla, wo man Funde aus der Bronzezeit entdeckte. Von Cuoz wird überliefert, dass der Weiler, damals  bestehend aus zwei Häusern, einmal einem reichen Gutsbesitzer gehörte. Dieser solle sehr reich gewesen sein. Um seine Knechte zum Gebet und zu den Mahlzeiten zu rufen, lies er die kleine Jakobskapelle bauen, dem Hl. Jakob deshalb geweiht, da das Gotteshaus an einem Jakobsweg liegt. Bekannt sind auch die Gutsherren in Peisel, wo einst ein Herrenhaus stand. Diese Herren waren politisch in der Region bekannt, denn Quellen berichten seit dem 13. Jahrhundert von ihnen. Viele Weiler verschwanden mit der Zeit oder man baute sie einfach ab. Ein Beispiel ist Cunel, oberhalb von Mumpé Tujetsch. Die Häuser wurden schlichtweg nach Disentis transportiert, ein Haus steht noch heute am Dorfausgang Richtung Lukmanierpass, die Ställe sind aber bis heute in Cunel geblieben. Schlimmer erging es dem Weiler Brulf, der im Jahr 1689 von der Bova Gronda (dt. grosser Bergsturtz) zugedeckt wurde. Viele Kinder und ältere Leute fanden den Tod, die anderen überlebten, weil sie zum Zeitpunkt der Katastrofe in der Pfarrkirche in Disentis waren.

Auch die Pest hinterlies Spuren und so ist die Kirche in Segnas den Pestheiligen Rochus und Sebastian geweiht. 1637/38 wütetet der schwarze Tod das letzte Mal ganz heftig in der Region und auf der Altarinschrift in Segnas ist zu lesen, dass 40 Leute an der Krankheit gestorben sind. Interessanterweise forderten Lawinen und Erdrutsche nicht viele Opfer, wenn schon nur deshalb, weil sich die Personen in Gefahr begaben. Schaut man die Dorfkerne der Weiler genauer an, merkt man, dass die Bauten immer ausserhalb der Gefahrenzonen errichtet wurden. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden die Bauzonen ausgedehnt, sodass Lawinenschutzverbauungen nötig wurden, um die bewohnten Gebiete zu schützen.

Heute kämpfen einige Weiler mit der Abwanderung nach Disentis-Dorf. Oft werden die alten Bauernhäuser in den Weilern leergelassen und am Rande entstehen neue, moderne Häuser. Es bleibt zu hoffen, dass innovative und neue Eigentümer die alten Häuser, die übrigens meistens um die 200 Jahre alt sind, wieder bewohnt werden.

Folgen Sie nun auf der linken Seite die geschichtlichen Angaben. Ich versuche die Texte ständig zu ergänzen und zu überarbeiten.

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