Die Pestprozession

Überlieferung gemäss Mythologische Landeskunde Graubünden, Band 2, S. 185

Im Jahr des grossen Sterbens ist mein Urahn eines Morgens früh aufgestanden, um in der Kirche S. Giachen beim Weiler Cuoz zum Lichtlöschen zu läuten . Und da hat er eine Prozession von etwa vierzig Personen daherkommen sehen, von Segnas weg nach Peisel hinüber und von Peisel weg nach Cuoz herunter durch die Wiesen. Sie sind an ihm vorbei gegangen, und er hat alle erkannt ausser dem letzten. Der hat einen blauen und einen grauen Strumpf angehabt. Er ist heim gegangen und hat sich wieder zu Bett gelegt, und dabei hat er gesehen, dass er selber einen blauen und einen grauen Strumpf angezogen hatte.

Und dann starben sie droben in Segnas, einer nach dem andern in der gleichen Reihenfolge, wie sie in der Prozession gegangen waren. Immer, wenn einer gestorben war, hat er gesagt: «Jetzt kommt der und der dran!» Und zuletzt hat er gesagt: «Jetzt komme ich dran!» Und so ist es auch gekommen. Und nachdem er gestorben war, ist die Pest zu Ende gewesen.

Auch heute noch macht man eine Prozession von Disentis nach Segnas und geht dort in die Messe (am 16. August). Und nach dem Mittagessen gehen die Buben von Segnas mit Trommeln und Flinten in Begleitung der Meitli im Umzug nach der S. Giachen-Kapelle und von dort nach Acletta zur S. Maria-Kapelle, und sie sagen dabei: «Oz catschein nus la mureia gronda!» (Heute vertreiben wir die Pest.) Seit sie diese Prozession machen, ist die Pest nicht mehr aufgetreten.

Die Prozession wird seit 1638 durch die Kinder von Segnas und Umgebung abgehalten. So weit man sich erinnern kann, wurde sie immer durchgeführt. Auch 2020, obwohl kein Kirchweihfest wegen der Covid-19 Pandemie stattfand, nahmen rund 50 Personen an der Prozession teil.

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